Jede Medallie hat zwei Seiten

Es hat auch gute Seiten.
Ich hoffe, Sie hängen keiner Verschwörungstheorie an. Covid-19 ist ein Corona-Virus und neuartiger Krankheitserreger. Dieser wurde wohl nicht, wie bei James Bond, durch böse Mächte freigesetzt, sondern auf Chinesischen Märkten in Wuhan über Fledermäuse und Schuppentiere, die dort zu den Spezialitäten zählen, auf den Menschen übertragen. So lautet die plausibelste Erkenntnis der Forscher. Die rasante Übertragung von Mensch zu Mensch ist noch nicht endgültig erforscht und die Infekte nehmen stark zu. Weil teilweise dramatische Krankheitsverläufe die medizinische Versorgung, auch in Deutschland, zu überfordern drohen macht es vor allem Sinn, die Kontakte soweit als möglich zu reduzieren um die Ausbreitungswege zu unterbrechen.
Es sollte inzwischen jeder von uns verstanden haben, dass es bei den Beschränkungen in erster Linie um solidarisch gelebten Schutz der Bevölkerung geht. Wie sich das anfühlt haben wir alle in den vergangenen Tagen kennen gelernt. Die Berichte von Familien und Einzelpersonen aus der „Isolation“ sind dabei oftmals erstaunlich positiv. Enkel basteln für Oma und Opa, Eltern nehmen sich neben Homeoffice Zeit für Hausaufgaben und gemeinsames Essen, vergessene Spiele und Bücher werden wieder entdeckt. Man macht sich so seine Gedanken über die sonst übliche Alltagshektik, besinnt sich auf vernachlässigte Kontakte und kümmert sich um Nachbarn. Die täglichen Wege beschränken sich auf Einkaufen und spazieren Gehen. Das Auto bleibt meist in der Garage. Noch vor einem halben Jahr war undenkbar, dass das Klimaziel der Bundesregierung, 40% Reduzierung des CO2-Ausstoßes gegenüber der Menge von 1990, erreicht werden könnte.
Jetzt ist das Ziel, dank Ausbau der PV- und Windparks, der CO2-Besteuerung, dem Ausstieg aus Kohleverstromung und, nicht zuletzt, den Beschränkungen zur Corona-Pandemie doch noch zu erreichen. NASA-Satellitenbilder zeigen saubere Luft über Wuhan und in den Kanälen von Venedig klärt sich das Wasser. Trostbergs Engstellen und die Stauzeiten sind momentan entschärft. Neben vielen Fragezeichen was die Zukunft anbelangt macht sich genauso eine große Ruhe breit.
Aber es ist auch offensichtlich, dass der Stillstand bei Industrie, Verkehr und Gewerbe viele Existenzen bedroht. Lebensmittelproduktion und -Verteilung, Energieversorgung und medizinische Betreuung sind bei uns, aber auch in ganz Deutschland nach wie vor gewährleistet.
Ertragsausfälle können von der Regierung weitgehend aufgefangen werden. Aber es ist unausweichlich, dass in absehbarer Zeit alle Prozesse wieder hochgefahren werden müssen. Wenn es soweit ist, sollten wir uns allerdings der neu kennengelernten Möglichkeiten besinnen.
Merken wir uns, wie wertvoll eine intakte Nachbarschaft, gemeinsame Essenszeiten, wenig Verkehrslärm und Besinnung auf das Hier und Jetzt sein kann. Wieviel Reisen und sonstigen Luxus brauche ich wirklich? Wahrscheinlich müssen wir in Zukunft mit dem neuen Krankheitserreger leben lernen. Aber die Bedrohung durch die Klimaerwärmung ist genauso Realität. Wenn wir aus den aktuell stark veränderten Bedingungen die richtigen Schlüsse ziehen, haben wir eine reelle Chance, auch die nächsten Klimaziele, 55% CO2-Reduzierung bis 2030 und 85-90% bis 2050, zu erreichen. Nur dann ist eine enkeltaugliche Zukunft möglich. Jede Medaille hat zwei Seiten. Wagen wir auch den Blick auf die hoffnungsvolle, gute Seite.

Von Hans Stalleicher, Umweltmanager der Stadt Trostberg